Es ist völlig absurd. Wir alle wissen es. Doch scheint unser Alltag ganz darauf ausgelegt, unser Wissen wirkungslos zu machen oder uns einzureden, man könne die Naturgesetze überlisten.
Wir sind sterblich. Wir werden mit 100 %-iger Sicherheit sterben. Man könnte sogar sagen: diese Gewissheit thront über allem Anderen, was unsere Existenz und das Universum
anbelangt. Über gar vieles mag man sich streiten, über Geschmäcker sowieso. Aber darüber, dass wir alle früher oder später diesen Körper verlassen müssen, lohnt keine Diskussion.
Es geht beim Sterben grunddemokratisch zu. Während nicht alle von uns Liebesbeziehungen haben, nicht alle von uns Kinder bekommen und aufziehen, nicht alle einen Job und ein Bankkonto haben,
längst nicht alle Achtsamkeit praktizieren – sterben müssen wir wirklich alle.
Todesgewahrsein ist ein wichtiges Mittel, um uns wach zu halten. Um bewusst zu leben. Um auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Um ungesunde Dysbalancen auszugleichen. Um uns
nach Konflikten wieder versöhnen zu können. Und noch so manches mehr...
Das Memento Mori (Erinnere dich, dass du stirbst) ist für den Buddha in der Satipatthana, der Lehrrede zur Achtsamkeit, wichtig.
Du gehst durch deinen Körper, spürst ihn, machst dir bewusst: Es ist Täuschung, am Körper anzuhaften. Dann beobachtest du den Atem und machst dir bewusst: Der Atem ist, wovon
unser Leben abhängt. Der Atem garantiert uns das Leben. Und er könnte jeden Moment enden. Und zumindest bringt uns jeder Atemzug unserem Tod näher - soviel ist klar. Dann kommt die Betrachtung
des Leichnams und des Skelettes, um dir das so wichtige Daseinsmerkmal "Vergänglichkeit" (in Pali "Anidscha") bewusst zu machen. Es hat also einen tiefen Zweck, sich die folgenden unschönen
Bilder zu vergegenwärtigen. Und das Unschöne davon kann sich mit der Praxis transformieren und sogar zu etwas Wohltuendem werden (Übersetzung aus Pali, aus Analayos Werk "Der direkte Weg"
2010):
"Sodann, ihr Mönche, als sähe er einen Leichnam, hingeworfen auf einem Leichenfeld - einen Tag, zwei oder drei Tage tot, aufgedunsen, bläulich verfärbt, aus dem Flüssigkeiten
sickern... wie er von Krähen, Falken, Geiern, Hunden, Schakalen oder verschiedenen Arten von Würmern verschlungen wird... ein Skelett mit Fleisch und Blut, von Sehnen zusammengehalten... ein
fleischloses Skelett, blutverschmiert, von Sehnen zusammengehalten..."
Bei dieser Vergegenwärtigung sollte man die Sache aber nicht überstrapazieren. Man sollte nichts davon erwarten und sich keinen Druck aufsetzen. Die Reflexion sollte einem guttun, Leiden lindern
und den Geist klären. Wenn die Übung eine andere Wirkung hat, übermässige Angst, Übelkeit, Rastlosigkeit oder andere Reaktionen auslöst, sollte man die Dosierung senken. Die Körperwahrnehmung ist
ein integraler Bestandteil dieser Praxis.
Eine australische Sterbebegleiterin hat einen Beststeller geschrieben. Der Titel: «Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen» (erschienen im Goldmann Verlag).
Bronnie Ware schildert ihre Erlebnisse als Palliativschwester. Ihr Sachbuch ist ein Geschenk an die Lesenden - voller Akzeptanz, Zärtlichkeit und Lebensweisheit.
Was sind diese fünf Dinge, die Sterbende laut Bronnie Wares Erfahrung immer wieder bedauern, weil sie sie vernachlässigt haben?
Erstens, ich hätte gerne den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie andere es von mir erwarten.
Zweitens, ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.
Drittens, ich hätte gerne den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken.
Viertens, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden mehr pflegen sollen.
Fünftens, ich hätte mir mehr Freude zugestehen sollen.
Bronnie Ware verkörpert mit ihrem Buch genau jene Qualitäten, die sie so wichtig findet. Die Autorin ist sehr offen, sie verstellt sich nicht. Ein Erfolgstyp scheint sie nicht zu
sein, sie war zwischendurch praktisch obdachlos. Bronnie Ware legt ihre Gefühle transparent dar, steht zu ihrer Liebe zu den Menschen. Aber auch zu ihren Schwierigkeiten, manche menschliche
Wesenszüge zu verstehen, die Schaden anrichten. So wird sie immer wieder Zeugin von Respekt- und Lieblosigkeiten gegenüber Sterbenden, begangen in der Regel von nahen Angehörigen.
Die Musse spielt in Bronnie Wares Leben offenbar eine grosse Rolle. Freude am Leben dringt aus jeder Zeile ihres Textes. Sie passt sich nicht einfach an, aber sie liebt. Sie lebt jenseits bürgerlicher Normen, aber sie begleitet alle Menschen. Unabhängig von Stand und Ansehen. Es sind auch viele Reiche darunter.
Das Memento Mori als Praxis kann sich auf vielfältige Weise vorteilhaft in unserem Leben auswirken. Nachfolgend einige persönliche Überlegungen:
• Beim Fällen von Entscheidungen : Es hilft mir, wenn ich mir bei einer Entscheidungsschwierigkeit bewusst mache, dass ich sterblich bin. Mir wird klar, wie unglaublich es ist, überhaupt
diese Optionen zu haben, unter denen ich auswählen kann. Ich stelle mir die Frage: Mit welchem Entscheidungsresultat könnte ich in Ruhe sterben, wenn ich schon heute aus dem Leben schiede?
• Lebensqualität und Glück. Todesgewahrsein gibt Ruhe und Erdung. Was brauche ich denn mehr, als einfach am Leben zu sein? Das Glück des puren Daseins.
• Gesundheit. Um gesund zu sein, müssen wir in Kontakt bleiben mit unseren Quellen. Gesundheit hat mit Ganzheit, mit Stimmigkeit zu tun. Todesgewahrsein hält uns in Stimmung.
Das Memento Mori stimmt, bildlich gesprochen, die Gitarre unseres Daseins. Und erzeugt einen schönen, abgerundeten Klang.
• Sicherheit und Frieden im Zusammenleben. Wie können wir ein anderes Leben töten, wenn wir Freude und Ergötzung an unserem eigenen Leben empfinden? Und den Fakt wertschätzen,
dass es ein Wunder ist, am Leben zu sein? Viele verantwortungslose Handlungen von Menschen kämen nie zu Stande, wenn sie mehr im Todesgewahrsein verankert wären.
• Weniger Ressourcen durch Überkonsum vergeuden. Wir brauchen weniger, wenn wir den simplen Wert des Lebens AN SICH tief empfinden. Verzichten kann eine Chance sein, näher zur
Essenz des Lebens zu kommen.
• Charakterliche Entwicklung. Todesgewahrsein verbrennt das Halbgare und lässt das Gute erstrahlen. Man sinkt ins Fundamentale hinein. Die Persönlichkeit reinigt und klärt sich.
• Beziehungen. Wir sehen das Wunder der Begegnung. Es ist einzigartig und unvergleichlich, guten Menschen zu begegnen, die uns die Augen und Herzen öffnen.
• Intelligenz und Kreativität: Unsterblich macht uns kein noch so gescheiter Gedanke, macht uns kein noch so geniales Werk. Das fokussiert unser intellektuelles und kreatives
Schaffen. Relativierung aus der Mitte heraus.
Es würde Sinn machen, wenn wir uns regelmässig vor Augen halten, dass wir auf der Reise sind, und dass die Länge der Reise völlig unbekannt ist. Klar ist einiges über die
Destination: Sie ist das absehbare Ende der Reise. Und die klaren Aspekte des Reisezieles darf man, ja sollte man sich bewusst machen. Aus ihnen entspringt nur Gutes.
Mein Leben kann noch Jahrzehnte dauern – oder aber in der nächsten Sekunde enden.
Zum Schluss zwei Video- respektive Podcast-Tipps:
Warum fürchten wir uns vor dem Tod? - Sternstunde Philosophie mit Susanne
Burri
Der Grabstein steht - Jung und kerngesund, und doch seinen Tod
bereits geplant. SRF Input
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