Literatur vermittelt das Unaussprechliche


Eine meiner prägenden Lektüren war "1984" von George Orwell. Es war das Gefühl, an etwas Verbotenem, Kostbarem, Gefahrvollem teilzuhaben. Das war, im positiven Sinne, sehr subjektiv. Es war ein Kontakt, über Tage mehrmaligen Lesens, mit einem Ort in mir. Ich wusste, dass das in der Welt existierte, auch draussen. Dass "es" real gewesen war, Millionen von Menschen geprägt hatte.

Nur "1984" konnte diese Welt zugänglich machen. Diesen Kitzel, diese Bitterkeit und Trauer.

Es kam etwas bei mir an und blieb. Etwas, was "Orwell'sch" genannt werden kann - wie es auch das "Kafkaeske" gibt. Der "Grosse Bruder", der Big Brother. Das jämmerliche soziale Zerrbild einer Reality-TV-Show… Hoffnung, Lebenshunger, Liebe, Poesie auf den einen Seite - Überwachung, Ohnmacht, Zynismus, Kontrolle auf der anderen Seite. Und: Die Grosse Warnung. Alles steht auf dem Spiel.

Johann Wolfgang Goethe sagte: "Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen."
Wenn wir, die keine George Orwells sind, schreiben, mit unseren für die Welt weniger entscheidenden Talenten und Erfahrungen, beschränkteren Kräften und Begriffen, können wir der „Vermittlerin des Unaussprechlichen“ genauso trauen wie alle grossen Schriftstellerinnen und Schriftsteller.

Obschon die Magie eines Werkes ominös-rätselhaft bleiben wird, tief in den Hinterkammern unserer Gehirne und Herzen versteckt, in unentschlüsselbaren Codes, vorhanden nur in Momenten der Intimität, gibt es Regeln.


Orwell musste viele Werke schreiben, ehe ihm sein Meisterstück gelang. Er musste lernen, sich der Symbolsprache zu bedienen.
Seine direkten, politischen, unter lebensgefährlichen Bedingungen gemachten Erfahrungen im Kampf zwischen den Mächten und Gesellschaftsschichten vor und während des Zweiten Weltkrieges musste er ausdrücken. Er tat dies aber projiziert in eine Negativ-Utopie 36 Jahre in der Zukunft – der Roman ist 1948 erschienen. Ein Kunstgriff.

„1984“ ist eine Metapher. Allgemeingültig, allgemeinverständlich. Selbst heute noch, für Menschen des Smartphone-, Facebook- und Whatsapp-Zeitalters.

„Die Farm der Tiere“ war eine Fabel-Parabel, „1984“ ein Sinnbild. Orwell war eigentlich im Dokumentarischen zuhause, wo ein „Ich“ oder „Orwell“ als Zeuge Historisches oder Milieuspezifisches berichtete.

Das Unaussprechliche aber liess sich dokumentarisch nicht vermitteln.
Was Orwell voraussah, die Bespitzelungsstaaten DDR oder Ceaucescus Rumänien, zum Beispiel, aber auch eine NSA oder Erdogans AKP-Türkei, erforderte gestalterische Entscheidungen.

„1984“ ist Science-Fiction – aber wie erbärmlich ist die dargestellte Technologie, sei es die Überwachung oder die Folter oder die Indoktrination (Doublethink, Newspeak)!

 

Das Unaussprechliche zu vermitteln, erfordert, dass wir die Kunstform "Literatur" beherrschen. Genauso, wie es weitreichende Kenntnisse braucht, um eine Computerapplikation zu programmieren.

Wie verhält sich die fiktive Romanwelt im Verhältnis zur Realität? Wie erzähle ich? Wie ist die Sprache? Was erschaffe ich neu?

 

Literatur ist Sprache des Menschlichen. Tröstlich, warnend, bezaubernd. Über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg. "Berührungsgestaltung" (Peter Handke). Verdichtete Wahrheit.

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