Man kann bezüglich Schriftstellern fragen: Wie kommen sie eigentlich zu ihren Geschichten?
Bevor wir aber antworten, eins vorweg: Ohne Aussage und Handlungskonstruktion gibt es überhaupt keine Geschichte. Geschichten sind geplant. Als naive Leser pflegen wir das zu ignorieren, denn wir
segeln im Ozean unseres Hirnkinos, unseres eigenen Films. Genau das ist es, was wir geniessen. Die Schriftsteller aber wissen genau, was sie wollen und suchen. Profis sind sich bewusst, was sie
mit ihren Geschichten aussagen, bewirken, auslösen, thematisieren wollen - erst diese Qualitäten machen eine Geschichte aus.
Der Geduldsaspekt
Der französische Romancier des 19. Jahrhunderts Gustave Flaubert zitiert Buffon: "Genie ist grosse Geduld."
Literatur schreiben ist eine langfristige Passion. Erforderlich sind Fleiss, Disziplin und Schürfen in der Tiefe. Nur keine einfachen Antworten! Einzig die reine, ungeschminkte Wahrheit vermag
zufriedenzustellen. Scheinwahrheiten sollen in Flammen aufgehen.
Hinzu kommt das Erlernen des Handwerks. Der Text, das Know-how, die eigene künstlerische Ausdrucksweise und Sprache müssen reifen. Sie müssen Ohren sowie Augen finden.
Natürlich ist es auch von Vorteil, wenn man als Literat Selbstwertgefühl aufbauen kann. Es geht aber auch ohne (siehe die Aussagen von Javier Marías weiter unten). Unabdingbar ist, in jedem Fall:
der lange Atem.
Im Gegensatz zu solch fast zeitlos Erlesenem steht das Heute. Gibt es in der heutigen Gesellschaft, im heutigen Alltag überhaupt noch etwas ausser Gewäsch? Fake News bieten "Alternativfakten",
Skandälchen von Sternchen überbieten sich täglich in Niveaulosigkeit, Influencer säuseln ihre Werbebotschaften, anonyme Poster nutzen das Netz für Hetze und Angstmache...
Der Notwendigkeitsaspekt
Jean-Claude Carrière, ein gestandener Drehbuchautor und Schriftsteller, hat eine höhere Idee vom Erzählen: "Notwendig muss es sein - nicht mehr und nicht weniger."
Für den Geschichtenerzähler und Mythologen Michael Meade sind Geschichten "der Leim, der die Welt zusammenhält".
Der britische Autor Phillip Pullman sagte: "Nach Nahrung, Schutz und Gemeinschaft sind Geschichten das, was wir am meisten brauchen."
Nicht nur das Erzählen, nein, auch das Lesen ist welterhaltend. Vorsicht somit vor "schlechten" Narrativen und "schlechten" Lektüren. Sie verraten unseren Kern. Wir sollten uns nicht etwa Schrott zuführen, sondern uns nähren, stärken und uns mit zeitlos Gültigem verbinden.
Der Leidens- und Kompensationsaspekt
Mittels kultureller Bemühungen und Errungenschaften versuchen wir uns zu immunisieren (Peter Sloterdijk) - gegen Tod, Gefahr und Bedrohungen. Es ist eine Notwendigkeit, Geschichten zu erzählen
und zu lauschen. Um Leiden zu lindern, Defizite zu kompensieren, zu mahnen, und um Wissen zu bewahren an unerhörte Begebenheiten.
Am Anfang des Schreibens steht bestimmt nicht das Angenehme. Das pflegte einer meiner Professoren an der Uni Zürich, der Romanist Georges Güntert, hervorzuheben. Aus einer schlechten Erfahrung - einem Trauma, einer Verlusterfahrung, der Ohnmacht des Schweigens und der Kommunikationslosigkeit - wird eine mitteilbare, eine kommunizierte, vergemeinschaftete Erfahrung. Schmerz, in Sprache und Handlung übergeführt.
Autorenstimmen
Wie sieht es aus mit den deklarierten Notwendigkeiten bei erfolgreichen, seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit stehenden Autoren?
Der Aargauer Urs Faes suchte beim Schreiben des autobiografischen Romans "Halt auf Verlangen" die Selbstvergewisserung (NZZ, 12.2.2017). In der Krebstherapie "sei ihm der eigene Körper fremd
geworden. Das Ich habe sich verloren, entmündigt von den Abläufen eines perfekt organisierten Spitalbetriebs."
Für den Amerikaner T.C. Boyle ist es die Natur, welche ihm als Quasi-Religion und Gegenpol zur Zivilisation dient. Schreiben ist für den Ex-Junkie Boyle ein Suchtersatz (Greenpeace-Magazin
2/2012).
Der spanische Bestsellerautor Javier Marías ("Mein Herz so weiss") verarbeitet im Schreiben seine Skepsis und Unsicherheit:
"Diese Unsicherheit ist ein Fluch, den ich nicht loswerde. Trotz Erfahrung ist es damit im Lauf der Jahre statt besser immer schlimmer geworden." (NZZ, 15.3.2012)
Und Sie??
Wie kommen nun eigentlich Sie zu Ihren Geschichten?
Legen Sie den Finger in die Wunde. Dorthin, wo's wehtut.
Mobilisieren Sie alles - Ihr Bestmögliches, um
- Sprache zu finden
- Antworten zu finden
- sich zu erleichtern und zu befreien
- und um Verständnis zu erlangen.
Kommentar schreiben