Sind unsere Biografien etwas Individuelles?


Gemeinhin versteht man unter Biografie und Autobiografie Dinge wie: Lebensläufe, Erinnerungen, Rückblicke. Eine Lebens-Zusammenfassung, vielleicht auch ein Abschluss kommen einem in den Sinn. Jemand berichtet über sein Leben - oder über ein anderes.

Ein Referat der Biografie-Forscherin Prof. Susanne Maurer von der Philipps-Universität im deutschen Marburg hat mir aber einen anderen Aspekt ganz klar werden lassen. Wie Maurer am 19. Oktober im Rahmen der Flying Science-Reihe in Muttenz ausführte, manifestiert sich im Biographischen immer auch das Kollektive. Das Allgemeine zeigt sich im Individuellen. Und auch umgekehrt.
Jede Zeit hat z.B. ihre typischen Sinneseindrücke. So roch es in der Öffentlichkeit vor einigen Jahrzehnten anders als heute, beispielweise nach verbrannten Pneus. Was heute infolge Verboten kaum mehr vorkommt. Oder nach Teer, oder nach Schlachthaus (an letzteren Geruch erinnere ich mich noch intensiv). Solche Eindrücke sind dem Leben der Individuen eingeprägt, und sie sind sowohl persönlich wie auch kollektiv.

Kraft der Relevanz eigener Leistungen für die Gruppe entstand beim bürgerlichen Subjekt das Gefühl „Ich bin jemand!“. Dass die ehemals „kleinen Leute“ infolge eigenem Einkommen und Bildung ein Ich-Bewusstsein entwickelten, ist eine relativ junge Entwicklung. Biografie in diesem Sinne gibt es laut Maurer erst seit 200 Jahren oder noch kürzer. Davor waren derartige Lebensbeschreibungen Monarchen und anderen Grossen vorbehalten.

(Ein Gedanke sei mir nebenbei erlaubt: Wie lange mag es wohl überhaupt noch Promis geben? Interessant ist jedenfalls, wie sehr sich der Promibegriff bereits gewandelt hat. Man denke z.B. an das "It-Girl" als aktuelles Phänomen.)

Wenn wir als Kreativ Schreibende auf den Fährten unserer Biografie wandeln, ist es also hilfreich, vom Gemeinschaftsbildenden auszugehen. Und dem auch zu vertrauen.  Im Kurs „Kreatives Schreiben, Modul I. Wege zur Inspiration und Autobiographisches Schreiben“ wird diese Ausrichtung von Januar bis März 2019 für uns wichtig sein.
Es ist nicht etwa blockierend, vom Generationen- und Gruppen-Relevanten her zu fragen – vielmehr ermöglicht es das Erzählen. Es lässt Worte und Erkenntnisse sprudeln. Konkret: Was hat mein Lebensgefühl als 15-Jährige/r geprägt? Wo habe ich Zusammengehörigkeit erlebt bzw. erlebe Bedeutung und Sinn, wenn ich heute mit Gleichaltrigen über jene vergangene Zeit spreche? Was wirkt noch nach, was berührt, beschäftigt? Man denke an damalige Musik-Subkulturen (Rock'n'Roll, Punk, Heavy Metal...), Jugenddiscos, Blauring-Lager, nächtliche Volleyballturniere oder Verliebtheiten, was auch immer. Es gibt den Soundtrack unseres Lebens, und dieser enthält eine ganze Reihe von Stücken oder Liedern, denen Wegabschnitte einbeschrieben sind.

Wie sieht es im heutigen Alltag, im Zeitalter der Digitalität, aber mit den „Biografie produzierenden Praktiken“ (Susanne Maurer) aus? Wie lässt sich aus „Millionen von Whatsapps“ überhaupt ein persönliches Archiv gestalten? Und gibt es Leute, die das machen? 
Eine interessante Fragestellung, bei welcher ein Buch aus der Duden-Reihe Kreatives Schreiben („Schreiben unter Strom. Experimentieren mit Twitter, Blogs, Facebook & Co“ von Stephan Porombka, 2012) Anregung geben könnte. Technikaffine – zu denen ich nun wirklich nicht zähle – werden aber vielleicht feststellen, dass die diskutierten Technologien nach sechs Jahren bereits veraltet sind...

Die Frage, was von unserem Erleben Bestand haben soll, ist heute wohl relevanter denn je.  Kann sich Bedeutung überhaupt noch verdichten? Fehlt dazu nicht die Musse, die nötige lange Weile? Bräuchte es nicht einen gewissen Leidensdruck - welcher uns heute eben, angesichts all der Annehmlichkeiten und Lustbarkeiten von Smartphone & Co., über weite Strecken abgeht?

Ich schliesse mit einem Zitat von Heinrich Heine:
„Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt. Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte.“

Weitere Vorträge zum Thema Biographie im Rahmen der Reihe Flying Science:
2. November 18, 19 Uhr, Muttenz, Raum 8a. „Ein Paar schreibt seine Biographie: Robert Grimm und Rosa Schlain im Jahr 1916“, Prof. Caroline Arni von der Uni Basel
9. November 18, gleiche Zeit und Ort. „Über das Schreiben und Lesen autobiographischer Text“. Prof. J. und F. v.Troschke, Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen

 

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