1979: Der amerikanische Arzt Jon Kabat Zinn behandelt als erster Mediziner chronisch Kranke und Schmerzpatienten systematisch mit buddhistischer Achtsamkeitsmeditation und Yoga. Die
Behandlungen schlagen gut bei den Patienten an. Das Acht-Wochen-Programm MBSR (mindfulness-based stress reduction, Stressbewältigung durch Achtsamkeit) entsteht. Eine
Erfolgsgeschichte nimmt ihren Anfang...
2019: Neue achtsamkeitsbasierte Programme schiessen weiterhin wie Pilze aus dem Boden. Jon Kabat Zinns MBSR steht längstens nicht mehr alleine da. Ein regelrechter Boom ist zu verzeichnen.
Neue Forschungsergebnisse stellen ausserdem das MBSR und seine Wirkungen auch in Frage. Oder zeigen zumindest auf, wo dessen Grenzen liegen.
Geht eine 40-jährige Erfolgsgeschichte, die für Dekaden den Gesundheitsdiskurs geprägt hat, allmählich zu Ende?
Bei der Beantwortung dieser Frage gilt es, die Übersicht zu wahren und die Informationen richtig einzuordnen. Das hilft, kühlen Kopf zu bewahren.
Seit ich 2012 die Weiterbildung zum MBSR-Lehrer in Angriff nahm, hat sich in der Achtsamkeitswelt, anscheinend, Grossartiges getan.
Ein Blick auf die Liste von
therapeutischen MBI (mindfulness-based interventions, achtsamkeitsbasierte Behandlungsformen) zeigt eine Vielzahl von Programmen, die unter betont wissenschaftlich-technisch klingenden
Kürzeln daherkommen.
Nennen möchte ich nebst MBSR das MBCT (mindfulness-based cognitive training, rückfallprophylaktisches Gedankentraining bei Depression), sodann ACT (Akzeptanz- und Commitment-Therapie), IM
(Interpersonelle Achtsamkeit, nach Meleo-Myer und Hicks), MBCL (Mindfulness-Based Compassionate Living, achtsamkeitsbasiertes mitfühlendes Leben) und MSC (Mindful Self-Compassion, Achtsames
Selbstmitgefühl).
Sicher haben zehntausende Menschen von diesen und ähnlichen Behandlungsformen profitiert. Aber, etwas provokant gefragt: Ist die Menschheit seit dem Achtsamkeitsboom vernünftiger,
glücklicher, gesünder oder weniger fremd- und selbstschädigend geworden?
(Wenn man den Zustand von Natur und Umwelt als Gradmesser nimmt, muss die Antwort Nein lauten. Aktuell nachzulesen z.B. im Zürcher Umweltbericht 2018.)
Eine Reihe von Trends lässt sich für die Dimension Mindfulness diagnostizieren:
- Achtsamkeit geht online. Repräsentiert wird diese interessante Strömung durch gut gemachte Achtsamkeits-Apps wie balloon (Deutsch) oder headspace (Englisch)
- Institutionalisierung und Verschulung nehmen zu. Im Sinne von: „Wir entwickeln jetzt auch ein besonderes achtsamkeitsbasiertes Programm, eröffnen dazu ein Achtsamkeitszentrum bzw. Achtsamkeitinstitut und bieten eine spezifische, nicht allzu günstige Ausbildung an."
- Achtsamkeitsmagazine, oft mit ästhetischem Anspruch und im Hochglanz-Kleid, boomen. Sie heissen zum Beispiel Moment by moment, Flow oder Happinez. Wer am Kiosk die Magazine durchgeht, wird noch viele weitere Titel entdecken.
Auch ein Kind des Trends, dabei aber vielleicht etwas weniger opportunistisch scheint mir die ökumenische Initiative OFFline der Basler Kirchen. Hinter OFFline verbirgt sich ein Zentrum für Meditation und Seelsorge. Dieses befindet sich bei der Titus-Kirche auf dem Basler
Bruderholz. Immerhin kann sich das Christentum auf viele Jahrhunderte Achtsamkeit berufen, die christliche Mystiker wie Meister Eckhardt, Bruder Klaus, Johannes vom Kreuz, Teresa von Avila oder
die nach dem Schisma der Ostkirche zugeschlagenen byzantinischen Anachoreten praktizierten. Und es geht den Kirchen zwar vielleicht um ihre Existenz, aber nicht um Geschäftsinteressen.
Die „Achtsamkeitsblase"
Ich habe natürlich meine persönlichen Beweggründe, so kritisch zu schreiben. Es lässt sich schon nicht von der Hand weisen, dass es schwieriger geworden ist, genügend Teilnehmende für einen
MBSR-Acht-Wochen-Kurs zusammenzubringen. An sich ist es ja sehr erfreulich für die Sache der Achtsamkeit, dass immer mehr Leute die Weiterbildung zur MBSR-Lehrerin, zum MBSR-Lehrer machen. Man
muss sich aber als Kursveranstalter schon was einfallen lassen. Vermutlich wächst die achtsamkeitsdurstige Bevölkerung auch nicht so rasch wie der Überbau an achtsamkeitsbasierten Anbietern.
Dieses Phänomen könnte, in Anlehnung an die Immobilienblase, tatsächlich als "Achtsamkeitsblase" bezeichnet werden.
Vermutet nun jemand, dass da viele Worte und viel Aktivität sind – und wenig praktizierte Geistesgegenwart? In der Tat ist die Rede von Business. Busy-ness. Geschäftig-Keit. Das
"freudlose Um-zu-Denken" (Kai Romhardt), welches ständig dem Nützlichen hinterherhechelt. Wie gut verträgt sich das mit Achtsamkeit?
Der Meditationslehrer Fred von Allmen sagte kürzlich bei einem Vortrag im Basler Meditationszentrum Kalyana Mitta, Geschäftigkeit sei nichts Anderes als eine Form von Schläfrigkeit bzw.
Dumpfheit. Und somit einer der fünf schwierigen Zustände, welche für geistige Klarheit hemmend sind. Im Buddhismus spricht man von den "five hindrances".
Wozu eigentlich der Wettbewerb? Wozu das Wetteifern? Das Hervorstechen-Wollen? Dies zu erforschen, das wäre doch das Interessante. Und das potenziell Heilsame.
Inwiefern wird MBSR in Frage gestellt?
Die bislang ernstzunehmendste kritische Anmerkung zu MBSR sehe ich im Befund des ReSource-Projektes. Im Interview gibt die ReSource-Leiterin Tanja Singer erste Ergebnisse dieses bislang grössten Meditations-Forschungsprojekts überhaupt
bekannt, das vom deutschen Max-Planck-Institut durchgeführt wurde (siehe GEO Magazin Nr. 2 /2018; eine Scandatei des Interviews kann am Ende dieses Blogeintrages heruntergeladen werden).
Das GEO-Magazin 2 / 2018 stellt das ReSource-Forschungsprojekt und seine grundlegenden drei Praxisformen vor. Die Forscher haben ein eigenes Meditationsprogramm für ReSource konzipiert. Die Programmteilnehmenden trainierten jeweils drei Monate in drei Modulen: "Präsenz" (ähnlich wie MBSR), "Affekt" (vergleichbar mit Selbstfürsorge/Mitgefühl/Metta) und "Perspektive" (eine völlig unabhängige Form, mit gewissen Überschneidungen mit Achtsamer Kommunikation, Einsichtsdialog und Interpersoneller Achtsamkeit).
Zwar werden die über Jahrzehnte gesammelten wissenschaftlichen Ergebnisse zu MBSR von ReSource nicht in Frage gestellt, aber bis zu einem gewissen Grade die stressreduzierende Wirkung des MBSR -
und zwar im Bereich des sozialen Stress. Dazu Tanja Singer in GEO:
„Unter sozialem Stress leiden in unserer modernen Gesellschaft viele am stärksten. […] Wir haben vor und nach [dem Test zu sozialem Stress] im Blut [der Probanden] das Stresshormon Cortisol
gemessen […] Bei jenen, die zuvor in den sozialen Modulen „Affekt“ oder „Perspektive“ Mitgefühl oder Perspektivenwechsel trainiert hatten, war die hormonelle Stressreaktion im Vergleich zur
Kontrollgruppe tatsächlich um rund 50 Prozent niedriger. Aber bei denen, die grade das [mit MBSR am nächsten verwandte] Modul „Präsenz“, also Atemmeditation und Bodyscan, hinter sich hatten, war
sie unverändert hoch. Das hat uns überrascht.“
Offenbar war das monatelange Training von Mitgefühl und Perspektivenwechsel effizienter für den Abbau von sozialem Stress als die MBSR-Kernelemente Atemmeditation und Bodyscan. Tanja Singer
erklärt sich das wie folgt:
„Bei achtsamkeitsbasierten Aufmerksamkeitsübungen konzentrieren sich die Teilnehmer nur auf sich selbst. Das ist offenbar nicht wirklich effizient, um sozialen Stress zu reduzieren.“
Für mich ist der Befund von ReSource sehr ernst zu nehmen. Die Rolle von Mitgefühl und Dialog wird somit noch wichtiger beim Umgang mit Stress, Belastungen und Leiden. Das wird
auch für die Weiterentwicklung von MBSR von Gewicht sein. Bereits jetzt sind Freundlichkeitsmeditation (Metta) und zwischenmenschlicher Stress bzw. Achtsamkeit in der Kommunikation in der zweiten
Kurshälfte zentrale Inhalte von MBSR. Aber es stimmt schon: Man konzentriert sich auch in den Kurswochen 5 bis 8 vor allem auf sich selbst.
Was ich zu bedenken geben möchte: Vielleicht ist MBSR als Einstieg ins Meditieren und Bewusster-Werden besonders geeignet, da man eben am leichtesten bei sich selbst anfängt. Auch das
ReSource-Programm startet mit dem Modul "Präsenz". Nach Durchlaufen dieses ersten Teils sollten die Inhalte dann aber mehr zum Du und zur Auflösung der Selbst-Fixierung übergehen.
Zum Glück gibt es die Forschung. Genauer gesagt, die von Geschäftsinteressen unabhängige Grundlagenforschung. Sie schreitet voran und kennt eine andere Dynamik als jene der Fragmentierung und
Diversifizierung. Tanja Singer mit ihrem Resource-Forschungsprojekt führt zusammen, statt zu dividieren. Und erhöht so den Erkenntnisgewinn für alle.
Wie die Achtsamkeitswelt vor dem Schisma bewahren?
Der Schweizer MBSR-Verband hat bislang nur die Anbieter von MBSR und MBCT vertreten. Was aber wird mit der ganzen Vielfalt von Programmen, Ausbildungen, Apps usw.? Entweder droht die
Fragmentierung, letztlich das "Schisma". Oder es wird ein Dachverband im Sinne von „Achtsamer leben“ geschaffen. Was wäre wohl eher im Gedanken der Gründer, eines Jon Kabat Zinn, des Dalai Lama
oder des Buddha, gewesen?
Egal, wo unsere Interessen sich niedergelassen haben, die Welt wandelt sich. Ständig. Nichts bleibt. Daraus lässt sich was machen. Wenn wir wollen. Wenn wir bewusst agieren. Anstatt bloss zu
reagieren.
Unter www.compassion-training.org finden Sie ein lesenswertes kostenloses E-Book mit interaktivem Material aus dem Resource-Projekt.
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