Vom freundlichen, achtsamen Nachforschen


Können wir uns mit dem Feind hinsetzen und mit ihm Tee trinken? Ihn vielleicht sogar anlächeln?


Ein Gasthaus ist dieses menschliche Dasein.
Jeden Tag eine Neuankunft.

Eine Freude, ein Kummer, eine Gemeinheit,
ein kurzes Achtsamsein
kommt als unerwarteter Gast

Heisse alle willkommen und mach’s allen schön!
Auch wenn sie ein Haufen Leiden sind,
die dir brutal alle Möbel rausfegen.
Egal. Behandle jeden Gast mit Respekt.
Vielleicht schafft er gerade in dir Platz
Für ganz neue Wonnen.

Den dunklen Gedanken, der Scham, der Boshaftigkeit –
öffne allen mit Lachen die Tür
und lade sie ein, deine Gäste zu sein.

Sei dankbar für jeden, der kommt,
denn jeder wurde als Führer von oben geschickt.

 

Wer den MBSR-Acht-Wochen-Kurs besucht hat, kennt wahrscheinlich das Gedicht Das Gasthaus des Sufi-Mystikers Rumi (1207-1273). Und wer die unvergleichlichen Gedichte Rumis kennt, weiss, wie wichtig darin das Lachen und der Genuss, die Liebe, sind.

 

***

 
Auch die buddhistische Lehrerin Tara Brach zitiert Das Gasthaus, und zwar in ihrem Buchkapitel  "Bedingungslose Freundlichkeit". Die Geschichte, die Tara Brach ans Rumi-Gedicht anschliesst, möchte ich hier im Wortlaut wiedergeben. Sie scheint mir sehr wertvoll.

Jakob war fast siebzig Jahre alt, und er befand sich in einem mittleren Stadium der Alzheimer-Krankheit. Da er von Beruf klinischer Psychologe war und seit über zwanzig Jahren Meditation praktizierte, war ihm sehr wohl bewusst, dass es mit seinen geistigen Fähigkeiten bergab ging. Gelegentlich setzte in seinem Gehirn völlige Leere ein; für ein paar Minuten hatte er dann keinerlei Zugang zu Worten und war völlig desorientiert. Er vergass oft, was er tat, und brauchte gewöhnlich Hilfe bei so grundlegenden Dingen wie Essen-klein-Schneiden, Ankleiden, Baden.
Mit Unterstützung seiner Frau nahm er an einem von mir geleiteten zehntägigen Meditationsretreat teil, und nach ein paar Tagen hatte er seine erste Unterredung mit mir. Solche regelmässigen Treffen von Schüler und Lehrer bieten die Möglichkeit, die Meditationspraxis zu überprüfen und persönliche Anleitungen zu erhalten. Wir sprachen bei dieser Begegnung darüber, wie es ihm im Retreat und zu Hause erging. Seiner Krankheit stand er mit Interesse, Traurigkeit, Dankbarkeit und sogar guter Laune gegenüber. Ich war von seiner Energie und seinem Durchhaltevermögen fasziniert und fragte ihn, was es ihm ermöglichte, diese Krankheit so anzunehmen. Er erwiderte: 'Es fühlt sich nicht so an, als ob irgendetwas nicht stimmte. Ich empfinde Trauer und Kummer über all das und habe auch etwas Angst davor. Aber es fühlt sich wie das wirkliche Leben an.' Dann erzählte er mir von einem Erlebnis in einem früheren Stadium seiner Krankheit.

Jacob hatte gelegentlich Vorträge über den Buddhismus gehalten, und so hatte er auch eine Einladung angenommen, vor einer Versammlung von über hundert Meditationsschülern zu sprechen.Er kam wach und munter am Ort des Geschehens an und freute sich darauf, die von ihm geliebten Lehren zu vermitteln. Er nahm vorne Platz, blickte in all die erwartungsvollen Gesichter... und wusste plötzlich nicht mehr, was er sagen oder tun sollte. Er wusste nicht, wo er war und warum er da war. Er wusste nur, dass sein Herz wie wild klopfte und in seinem Kopf sich alles in Verwirrung drehte. Da legte er die Hände vor dem Herzen zusammen und begann laut zu benennen, was sich in seinem Inneren abspielte: 'Angst, beschämt, verwirrt, das Gefühl zu versagen, ohnmächtig, zitternd, Gefühl von Sterben, verloren.' So sass er noch einige Minuten länger mit leicht gesenktem Kopf da und setzte die Benennung seiner Gefühle und Wahrnehmungen fort. Als sich sein Körper allmählich entspannte und er innerlich ruhiger wurde, registrierte er auch das laut. Als er schliesslich den Kopf hob, sah er sich langsam in der Runde der Versammelten um und entschuldigte sich.

Viele Schüler und Schülerinnen hatten Tränen in den Augen. Einer formulierte es so: 'Keiner hat uns jemals so belehrt. Ihre Gegenwart war die tiefste Belehrung.' Statt zu versuchen, seine Erfahrung wegzuschieben und damit seine Aufregung zu vermehren, hatte Jacob den Mut und auch die Übung, das, was er wahrnahm, einfach zu benennen und am wichtigsten: sich seiner Erfahrung zu beugen. Auf eine ganz grundlegende Weise machte er aus seinen Gefühlen der Angst und Verwirrung keinen Feind. Er machte nichts zu etwas Falschem, er machte nichts zu irgendetwas, das nicht stimmte.
(Aus: Mit dem Herzen eines Buddha. O.W. Barth Verlag 2005, S.97ff.)

 

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Auch ich selbst möchte hier eine Geschichte erzählen. Für eine halbe Stunde erlebte ich vor einigen Tagen einen Alptraum, der mich im Alltag heimsuchte.
Meine sechsjährige Tochter hatte eine Routine-Blutuntersuchung beim Arzt gemacht, von der wir nichts Aufregendes erwarteten. Meine Frau erhielt kurz nach Verlassen der Kinderarztpraxis ein Telefonat des Arztes und textete mir in der Folge, dass die Untersuchung schlechte Blutwerte ergeben habe und die Tests sofort wiederholt werden müssten. Sollten die Werte bestätigt werden, läge womöglich eine schlimme Krankheit vor.


Ich machte nach Erhalt der SMS eine schwierige Halbstunde allein in meinem Kursraum durch, wo ich grade mit dem Mittagessen fertig geworden war und mit meiner Achtsamkeitspraxis beginnen wollte. (Ich füge hier hinzu, dass die zweite Untersuchung zum Glück positive Blutwerte brachte.)

Da wir im MBSR-Kurs gerade in Woche 4 steckten, machte ich mir zu diesem unangenehmen Erlebnis am gleichen Abend Notizen. Was ich tat, kann man als inneres achtsames Nachforschen (auf Englisch: investigation) bezeichnen.

Ich notierte:

Gefühle/Stimmung: Grosse Unruhe, keine Motivation mehr, desorientiert, Ohnmacht, ich möchte das nicht aushalten müssen, seelischer Schmerz, Isolation

Körperempfindungen: Lähmung, als hielte mich etwas fest - (fahrige Bewegungen) - Leere, v.a. im Kopf - Herzpochen - flackernder Blick

Gedanken: "Was soll ich von meinen sinnlosen Alltagsdingen jetzt noch erledigen?" - "Es ist wie ein Alptraum" - (ich beginne Gedankenszenarien zu wälzen) - "Was mache ich jetzt?" - "Du müsstest doch jetzt in der Arztpraxis mit dabeisein"

 

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Wo kann ich bedingungslose, radikale Freundlichkeit hineinbringen?

Mit dem Feind Tee trinken – ihn dabei vielleicht sogar anlächeln?
Wie diese Haltung des „Es ist das wirkliche Leben, auch wenn es einem den Magen umdreht und die Welt unterzugehen scheint“  und „im Prinzip stimmt doch alles, ich bin ganz und heil“ hineinbringen?

 

Wenn wir freundlich und achtsam nachforschen nach innen, dann tun wir das nicht, um etwas gezielt zu ändern oder zu analysieren. Es geht vielmehr darum, Interesse und Offenheit sowie Wertschätzung gegenüber der ganzen Erfahrung aufzubringen.

Vorurteilslos. Frisch. Wie ein Anfänger. Mit Anfängergeist.
Wir bringen Aufmerksamkeit gegenüber dem Unangenehmen auf – ja, dem Unangenehmsten. Dem "Feind", der eigentlichen Zumutung, dem Skandalösen, das uns aufbringt. Genau dort fühlen wir hinein.

Wir tun es vorsichtig. Respektvoll. Wir gewöhnen uns erst mal dran.

Akklimatisieren uns. Im eigenen Tempo und Vorgehen.

Und wir lassen zu. Vertiefen uns voller Gewahrsein ins Herz der schwierigen Gefühle, des schwierigen Erlebens.

Voller Mitgefühl. Dabei spüren und respektieren wir die eigenen Grenzen. Und wir lassen alles genau so, wie wir es vorfinden.

 

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Die Befreundung des „Feindes“ kann nur über ein langes Kennenlernen geschehen. Es ist ein Hineinwachsen. Und das enthält auch das Loslassen.
Passieren kann noch etwas: Der „Feind“ wird plötzlich zum Spiegel. Ich entdecke mich selbst in ihm. Ich entdecke das, was ich an mir nicht haben, nicht erfahren möchte.
Könnte dies eine Wahrheit sein, die mich für neue Wonnen reinigt?


Ich merke…es ist bis zum Lächeln vielleicht gar kein so weiter Weg mehr.

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