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Der Psychopathen-Forscher, der in seinen Grundannahmen erschüttert wird


Der Neurowissenschafter James Fallon hat eine starke These, von der er sich nicht abbringen lassen will. Bis er eine Begegnung mit sich selbst hat, die ihn erschüttert.
Ich habe durch einen Podcast von NZZ Akzent von James Fallon erfahren. Fallons Forschungsfeld ist das Gehirn von sogenannten Psychopathen und Psychopathinnen. Er ist überzeugt, dass das Erbgut der Faktor ist, der über Psychopathie entscheidet. Bis er sein eigenes Hirn analysiert.

 

Man stelle sich das vor: Ich befasse mich mit einer Gruppe von "Abnormen" und potenziell Gefährlichen, um die Gesellschaft und diese Leute selbst vor ihr zu schützen. Ich forsche nach Hilfsmitteln, diese potenziell gefährliche Personengruppe leichter zu erkennen - beispielsweise durch Gentests und Hirnscans. Eines Tages entdecke ich rein zufällig, dass ich selbst unter die Kategorie der "Abnormen" und potenziell Gefährlichen falle. Das kriminelle Verhalten meiner Vorfahren und die Aussagen meines Umfelds über mein eigenes, manchmal schamloses Verhalten stützen den Befund sogar!

 

Müsste ich - ich spreche aus Fallons Perspektive - nun die Gesellschaft vor mir selbst schützen? Der Forscher zumindest wird gezwungen, seine These "Die Hirnstruktur und das Erbgut allein sind entscheidend, ob jemand ein Psychopath oder eine Psychopathin ist" radikal zu hinterfragen. Denn er selbst ist nie straffällig geworden. Er hatte jedoch auch eine behütete Kindheit. Sind die anderen Forschenden wohl doch keine Spinner,  wie Fallon stets annahm? Hatten die Anderen doch Recht, den Aspekt der biografischen Prägungen bei Straftaten zu betonen?

 

Selbsterkenntnis führt zu einem heilsamen Schock und leitet ein Umdenken ein. Fallon könnte sich vielleicht sogar bewusst werden, dass seine Veranlagung ein Motiv war, sich in diese spezielle Forschungsaufgabe hineinzuknieen. (Es schiene mir nicht abwegig, ist aber reine Spekulation.) Es gibt also diese Trennung zwischen "ich" ich "sie" oder zwischen "wir" und "sie" gar nicht. Der ganze Anstrich von wissenschaftlicher Objektivität und unbeteiligter Beobachtung blättert ab. Plötzlich sieht einer sich selbst mit heruntergelassenen Hosen dastehen. Sieht: Seine detektivischen Ermittlungen haben ihn auf die eigene Spur geführt. Er hat sich unwissentlich selbst auf die Anklagebank gerufen.  - Das ist die Ödipus-Erkenntnis, das ist der Erbsünde-Schock. Ein unglaublicher Moment.

Immerhin kann der Forscher die Einsicht mit Humor und Leichtigkeit nehmen und sie in sein Weltbild integrieren...

 

Jesus sagt in der Bibel: "Wie kannst du sagen zu deinem Nächsten: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen! Und siehst nicht den Balken in deinem eigenen Auge?" (Mätthaus 7,4)

Ich möchte dem berühmten Wissenschaftler James Fallon danken, dass er seinen schockhaften Gesinnungswandel publik gemacht hat. Der Mangel beziehungsweise die Schwäche punkto Empathie, die er bei sich selbst feststellt - und welche er per Definition mit Psychopathen teilt -, hat nicht zu Verbohrtheit, sondern zu wertvollen Erkenntnissen geführt.

 

Selbsterkenntnis ist auch für meine Anliegen unverzichtbar. Sie ist leitend beim guten Schreiben, beim wirksamen Coaching, in der inspirierenden Arbeit in der Gruppe. Selbsterkenntnis ist eine Grundfähigkeit des homo sapiens sapiens. Sie zeichnet jenen Menschen aus, der sich bewusst ist und weiss, dass er weiss. Das Erkenntnissystem dieses Menschen kurzzuschliessen, ihn zu einer vollen Umarmung seiner eigenen Natur zu bringen, bedeutet, seine spirituelle, Frieden und Weisheit und Mitgefühl schaffende Energie anzuzapfen.

Aber das geschieht nicht in der Komfortzone! In der comfort zone ist die Gefahr gross, dass der Geist sich über die Naturgesetze erhebt. Die automatischen Überlebensmodi von Flucht, Angriff und Erstarren bestimmen uns. Wir sehen nur, was wir sehen wollen. Und nur soviel, wie unserer Überlebensstrategie dienlich ist.

 

Hier könnte die Meditation als Korrektiv ins Spiel kommen. Meditation als ehrliche, handwerklich fundierte und unmanipulative Selbst-Erforschungsmethode. Sie trägt jenen Aspekt der geklärten Subjektivität zum Erkenntnisprozess bei, der für ausgewogene Wissenschaft nötig ist. Wahre Meditation und die direkte Lebenserfahrung greifen ineinander, stehen sich nicht im Wege, sondern sind im Dialog.

 

Die älteste und auch die ehrlichste Form von Forschung ist die Meditation. Meditation ist die Urform von Wissenschaft. Eine Balance zwischen Innen und Aussen bei der Erkenntnis hilft auch, Wissen hilfreich und mitmenschlich förderlich einzusetzen. Wissen, das ohne Empathie in Umlauf gebracht wird, ist Wissen ohne Verantwortung. Es kann Schaden anrichten.

Selbsterkenntnis bedeutet: die Naturgesetze erkennen. Erkennen, wie die Wirklichkeit «gebaut» ist. Wie die Dinge zusammenhängen und zusammenspielen.

Sie führt zu Ernüchterung und führt dazu, dass wir Illusionen und Täuschungen loslassen müssen. Und so bewahrt sie uns vor folgenreichen Irrtümern.

 

In diesem Sinne möchte ich ganz besonders Menschen, die in der Wissenschaft tätig sind, tägliches Meditieren empfehlen. Doch selbstverständlich nicht nur diesen.

 

Hören Sie hier kostenlos den Podcast "Gibt es den geborenen Psychopathen?" auf NZZ Akzent.

 

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