Was macht gute Roman-Dialoge aus?


Am 31. August steht bei Raum zum Schreiben die Eintägige Schreibwerkstatt "Mini-Dialoge" an. In diesem Blog-Beitrag möchte ich das fachliche Terrain dazu etwas vorsondieren.

 

Gute Roman-Dialoge bestechen durch Lebendigkeit und reissen uns ins Lesen hinein. 

"Gesprochene Sprache als Dialog auf der Buchseite zieht die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich und bringt, sofern er gut verfasst ist, die Geschichte voran." (Roy Peter Clark)

Gute Dialoge kurbeln also die Romanhandlung an. (Wir verstehen "Handlung" gleichbedeutend wie "Geschichte".) Es ist zu unterscheiden zwischen dynamischen und statischen Dialogen. Die dynamischen Dialoge enthalten nur das wirklich Nötige. Die statischen hingegen drehen sich im Kreise und enthalten unnötige Informationen sowie Gesprächsfloskeln.

Eine produktive Übung besteht darin, eine erzählte Geschichte voll und ganz als Dialog umzuschreiben. Lassen Sie uns hier grade zu Werke gehen - allerdings im umgekehrten Sinne. Wir stellen nämlich einem bereits existierenden Dialog die Nacherzählung gegenüber. Alles Wichtige wird sich am Beispiel zeigen.

 

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Ich habe einen Ausschnitt aus dem Thriller-Roman "Der Teufel von Mailand" (2006) von Martin Suter ausgewählt. Der Dialog findet sich am Ende des ersten Drittels des Buches.

Um die Geschichte als Erzähltes der Dialog-Form gegenüberstellen zu können, lassen Sie mich mit einer kurzen Zusammenfassung der Handlung beginnen:
Sonia, seit Kurzem erst Physiotherapeutin in einem reichlich unheimlichen Engadiner Wellness-Hotel, hat heute einen neuen Kunden: Dr. Stahel. Bei der Behandlung erleidet Sonia einen plötzlichen Anflug von Unwohlsein. Der sympathische Arzt Stahel möchte wissen, was los ist. Etwas widerwillig gibt Sonia Auskunft auf seine Fragen. Es stellt sich heraus, dass Sonia Synästhetikerin ist. Synästhetiker vermischen die verschiedenen Sinneseindrücke, zum Beispiel das Hören mit dem Sehen oder das Riechen mit dem Spüren. Die Diagnose, die Dr. Stahel stellt, ist völlig neu für Sonia. Auch erweist sich, dass Sonias belastende intensiven Wahrnehmungen ab einem bestimmten Erlebnis vor wenigen Wochen massiv zugenommen haben.

 

Sie werden es sehen: Keine noch so treffende Zusammenfassung könnte es mit der Direktheit der Dialog-Form aufnehmen.

Es gibt tausend Arten, ein Geschehen wiederzugeben. Bei Dialogen gibt es eigentlich nur eine einzige Form: die wesentliche, die glaubhafte.

 

Dr. Stahel legte sich wieder auf den Bauch. Sonia überwand sich und zog seine Nackenmuskeln wieder hoch. Sie fühlten sich normal an. Und auch der bittere Geschmack auf ihrer Zunge war verflogen. Sie fuhr fort zu kneten.
  "Sie dürfen es mir ruhig sagen, wenn Sie die Behandlung beenden wollen. Ich habe Verständnis für Unpässlichkeiten, ich bin Arzt."
 "Es ist nichts Körperliches."
 "Das Körperliche ist auch weniger mein Gebiet."
 Sonja wechselte die Seite und nahm sich die linke Schulterpartie vor. Und plötzlich hörte sie sich sagen:  "Ihr musculus trapezius hatte sich angefühlt wie ein Lineal. Vierkantig."
 "So fühlt er sich manchmal auch für mich an."
 "Und auf der Zunge bitter wie Angostura."
 "Auf der Zunge?"
  "Ich schmecke Formen, sehe Töne, rieche Farben. Und so weiter."
 "Sie sind Synästhetikerin?"
 "Synäwas?"
 "Synästhesie kommt aus dem Griechischen und heisst soviel wie Mitempfinden. Die Wahrnehmungen verknüpfen sich. Geräusche bekommen Farben oder Formen. Berührungen duften oder schmecken."
 "Das haben auch andere Leute?"
 "Nicht viele. Hat Ihnen das noch nie jemand gesagt?"
 "Ich habe es ja noch nicht lange."
 "Wie lange?"
 "Ein paar Wochen."
 "Und davor nie?"
 "Nie."
 "Als Kind?"
 "Nie."
 Dr. Stahel dachte nach.
 "Muss ich mir Sorgen machen?"
 Anstatt zu antworten, fragte er: "Sind Sie Linkshänderin?"
 "Ja."
 "Die meisten Synästhetiker sind weiblich und Linkshänder." Er schwieg wieder.
 Sonia zog das Frottiertuch bis zu seinen Schultern hoch. Die Beine waren jetzt abgedeckt. Sie goss sich mehr Massageöl auf die Handfläche, verrieb es und ölte sein rechtes Bein ein. Sie legte beide Hände oberhalb des Fussgelenks hintereinander und strich die Wade kräftig bis zur Kniekehle und federleicht zurück in die Ausgangslage.
 "Als Sie schreiben lernten, hatten da die Buchstaben bestimmte Farben?"
 Sonia hörte auf zu massieren. "Ja. Haben sie heute noch."
 "Mhm. Und wie ist Ihr Gedächtnis?"
 "Gut."
 "Wie gut?"
 "Fotografisch. Ich vergesse nichts."
 "Gut."
 "Ich finde das nicht so gut. Ich habe den Kopf voller Bilder, die ich vergessen möchte."
 "Ich meine, gut für meine Diagnose. Sie haben alle Anlagen zur Synästhetikerin."
 "Sie sagten doch, das habe man schon als Kind?"
 "Wenn Sie die Buchstaben in Farben sehen, ist das schon eine Form der Synästhesie."
 Sonia setzte die Arbeit fort. Sie strich das ganze Bein bis zum Oberschenkelansatz, nur bei der empfindlichen Kniekehle reduzierte sie den Druck ein wenig.
 "Und das haben Sie immer?"
 "Nein. Nur ab und zu. Wie eben."
 Die Musik wechselte von Flöte mit Klangschale zu Harfe mit Klangschale. Dr. Stahels Schweigen machte Sonia nervös. "Kann es durch etwas ausgelöst werden?"
 Er überlegte. "Durch Drogen. Haben Sie Erfahrungen mit so was?"
 Etwas an der Art, wie sie nein sagte, liess ihn nach einer Weile fragen: "Wollen wir dieses Gespräch als eine Sprechstunde betrachten, die unter die ärztliche Schweigepflicht fällt?"
 Sonia lachte. "Bei solchen Gesprächen ist es doch eher umgekehrt: Der Patient liegt."
 Er lachte auch ein bisschen, bevor er eine Frage stellte. "Können Sie genau bestimmen, wann es begonnen hat?"
 "Genau."
"Ist es mit einem bestimmten Erlebnis verbunden?"
 "Ja."
 Er zögerte. "Einem Drogenerlebnis?"
 "Acid. LSD."

 

***


Enthält des Gespräch zwischen Sonia und Dr. Stahel etwelche überflüssigen Elemente? Wohl kaum. Jeder einzelne Satz bringt die Geschichte von "Der Teufel von Mailand" voran. Hat Handlungswert. Was nicht der Information dient, schafft Stimmung oder charakterisiert die Figuren.

Vieles war andeutungsweise schon vor diesem Dialog in die Romanhandlung eingeführt worden. Aber erst dieses Gespräch bringt Klärung. Der Redefluss sowie die Sprechweise der Figuren erscheinen natürlich und entsprechen dem Medium. Im Kern geht es aber um nichts Anderes als die Handlung, den Plot. Die Protagonistin Sonia hat ab jetzt zwei Helfer: Ihr Wissen und Dr. Stahel. Diese wird sie später auch noch brauchen können. Denn Sonjas Ex-Mann und dunkle Mächte trachten nach ihrem Leben. Wahrlich, auch im Einsatz von Dialogen erweist sich Martin Suter als Könner des Suspense.

 

***


Ich lade Sie sehr herzlich dazu ein, das Dialoge-Schreiben gemeinsam auszuprobieren. In der Schreibwerkstatt werden Sie an Ihren Texten feilen und sich mit Gleichgesinnten austauschen können.

Natürlich gibt es noch viel mehr zu lernen, als "bloss" das Erzeugen von Handlungsdynamik...
Den vollständigen Bericht dazu lesen Sie bald auf diesem Blog.

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