Achtsamer leben dank Meditationsapps? Ein Testlauf


Wieviele Minuten oder Stunden verbringen Sie pro Tag vor dem Bildschirm? Wieviel davon findet am Smartphone statt?

Ist Ihnen wohl bei diesem Thema? Ich muss ehrlich sagen, mir ist es peinlich. Denn ich verbringe mehr Zeit vor dem Handy, als ich eigentlich möchte.  Und ich tue dabei oftmals nicht die Dinge, die mir eigentlich sinnvoll erscheinen...

Kann es also nicht eine Chance sein, dass es digitale Meditationsapps zum Runterladen gibt? Könnten mir die Apps nicht helfen, sinnvollere Zeit mit dem Handy zu verbringen? Meinen Stress zu reduzieren, indem sie mir gesündere Anregungen und Inhalte geben?

Als MBSR-Lehrer, der in den letzten neun Jahren über 20 Kurse geleitet hat, bemerke ich Dynamiken, die darauf hindeuten, dass aktuell mehr Leute auf Handy-Apps setzen. Diese Apps enthalten mitunter vollständige Kurse, manche sind geschickt aufgebaut und vermitteln ihren Stoff wirkungsvoll. Ist es denkbar, dass Meditationsinteressierte zu Gunsten von Apps ganz auf Präsenz- und Online-Kurse verzichten, in denen sie auf Menschen treffen? Könnte die Corona-Zeit eine solche Entwicklung begünstigt oder beschleunigt haben?

 

Ich fühlte mich motiviert, einen Selbstversuch zu starten, um diese Meditationsapps  kennenzulernen. Mir war bewusst, dass sie eine potenzielle Konkurrenz für mich als MBSR-Lehrer darstellen. Doch wie sagt man so schön: Konkurrenz hält jung? Und: Die Konkurrenz schläft nicht? Ausserdem war es ja normal und richtig, dass Dinge sich ändern. Man sollte sich der Veränderung nicht verschliessen, dachte ich. Also war es doch das Beste, ich folgte meinem Impuls und informierte mich direkt an der Quelle.

Ich entschied mich für Probeabos der folgenden drei Apps: Balloon, Headspace und Calm. (Im App-Store Ihres Handys sollten Sie deutsche Versionen zu allen drei Apps finden.) Die kostenlosen Probeabos konnte ich für den Zeitraum von 7 bis 14 Tagen abschliessen.
Bei Balloon handelt es sich um ein deutsches Produkt. Es wurde von Wissenschaftlern aus dem Umfeld des ReSource-Projekts entwickelt, der weltweit bisher grössten Meditationsstudie.  Headspace ist schätzungsweise in Mitteleuropa die verbreitetste Meditationsapp. Calm wurde mir von einer erfahrenen buddhistischen Lehrerin empfohlen. Calm existiert in diversen Sprachen.

Alle diese Apps treten als Selbstcoaching-Tools auf. Man kann, je nach Möglichkeit, Lust und Bedürfnis, aus einer Vielzahl von Angeboten auswählen: Meditationen in verschiedenen Längen, für unterschiedliche Erfahrungsstufen, eher mit Wellness-  oder mit Stressmanagement-Charakter, Audios, Videos, Podcasts, Vorträge, einzeln oder abgestuft in ganzen Kursen. Die Meditationsapps kontrollieren und evaluieren das eigene Üben und die erreichten Fortschritte - gemäss unseren Plänen und definierten Zielen. Ist das nicht super?

Die Qualität auf Balloon, Headspace und Calm ist generell hoch. Beispielsweise habe ich eine Zehn-Minuten-Meditation auf Headspace zu „Wertschätzung“ gemacht, die sogar aus buddhistischer Perspektive Impulse bot. Zum Thema Schlafqualität - das viele Leute beschäftigt - findet man auf allen drei Apps Übungen und teils sogar Kurse. Lustigerweise sind auch meditative Einschlafgeschichten respektive Klangreisen für Kinder im Angebot. Offenbar wussten die Entwickler, wo viele Meditierende und auch Eltern der Schuh drückt.

In Deutschland bezahlen Krankenkassen mitunter etwas an die Abokosten. In der Schweiz haben Krankenkassen eigene Meditationsapps entwickelt, die man nutzen kann - zum Beispiel Helsana


Während Balloon und Headspace mit authentisch wirkenden Stimmen arbeiten, klingt die Synchronisierung vom Englischen ins Deutsche bei Calm eher künstlich (zumindest im Bewegungs-Video „Die Vergangenheit loslassen“). Ich fühlte mich an Netflix und ähnliche Dienste erinnert.

Was schlecht zum nicht-materialistischen und gelassenen Charakter von Meditation passt und an Belästigung grenzt: Man erhält ab Registrierung fast täglich Mails zugeschickt.

Bald merkte ich in mir einen Widerstand gegen diese Handy-Segnungen wachsen. Konnte man nicht bereits von einer „App-isierung“ des Lebens von uns Menschen sprechen? Und wuchs damit nicht auch ständig die Abhängigkeit vom Smartphone? War es nicht so, dass wir in unserem Alltagsverhalten den Handys schon mehr als genug Wichtigkeit geben?
 

Die Meditationsapps mögen qualitativ hervorragend sein und mit der Zeit sogar noch besser werden. Aber stimmt die Idee von Sinn und Glück überhaupt, mit der sie uns locken? Führen sie uns nicht vielmehr noch mehr in die Irre, als es all die digitalen Gadgets, vor allem die Smartphones, bereits tun?
 
Ich besuche regelmässig buddhistische Retreats. In der Regel wird dort verlangt, die Handys über die ganze Retreat-Dauer ausgeschaltet zu lassen. Die buddhistischen Lehrenden unterstreichen immer wieder, welche Abhängigkeit von den Smartphones sie bei Teilnehmenden in den letzten Jahren erleben. Viele, vor allem junge Teilnehmende, seien schon froh und stolz, nur für einige Tage ihre Handys ausgeschaltet zu lassen. Manche nutzen das Angebot, ihre Handys zur Aufbewahrung ans Leitungsteam zu übergeben. Ich hörte auch von Leuten, die aus Retreats ausgeschlossen wurden, weil sie Ihre Handys mit in den Meditationsraum nahmen und weiterbenutzten. Wahrlich, es ist eine Krux.

Sangha. Sangha ist ein Pali-Wort und steht für "Gemeinschaft". Sangha oder Gemeinschaft ist ein absolut fundamentaler Pfeiler unserer Gesundheit und Freiheit. Unabdingbar für ein Leben frei von Leiden und Schmerz. Sangha steht für eine andere Profitidee als der „selbst-verhaftete“ Gewinn, welchen uns die Handys in ihrer Funktion als unsere Coaches weismachen wollen.


Handys sind ein schlechter Ersatz für menschliche Verbundenheit.  Gut möglich, dass ein Teil der Menschheit die Idee der Selbstoptimierung für echte Verbundenheit eingetauscht hat. Die Idee, dank Handyapps mehr Zeit zu gewinnen - die man dann für „das Wesentliche“ nutzen könnte.  Doch wann ist der Zeitpunkt da, wo das Selbst sein Optimum erreicht hat? Und sind die Bedingungen, wenn man dann an diesem Punkt ist, überhaupt noch die gleichen wie damals, als man zum besseren Selbst aufbrach?

 

Die Angst des Menschen vor der Verbundenheit ist wohl fast so alt wie sein absolutes Angewiesensein auf Gemeinschaft.

Gibt’s einen Mehrwert der Meditations-Apps? Erforschen Sie diese Frage mit Ihren Mitteln und in aller Gründlichkeit. Und entscheiden Sie selbst!
Ich für meinen Teil habe mich bereits entschieden. Ich habe alle Probeabos fristgerecht von meinem Handy gelöscht.

Ich ziehe es vor, alles mit realen Menschen, in realer Gemeinschaft, in realer Verbundenheit durchzuführen – mit realen Wachstums- und Erkenntnischancen – und mit etwas Mut verbunden:


Hier finden Sie einen weiteren Testbericht zu Calm.